Offener Brief an Annalena Baerbock
Liebe Annalena,
Du hast gestern in Deiner politischen Rede von der tiefen inhaltlichen Arbeit im Grundsatzprogrammprozess gesprochen. Leider hast Du, zusammen mit Deinen fünf Bundesvorstandskolleg*innen den zweieinhalb Jahre dauernden demokratischen Grundsatzprogrammprozess ganz zum Schluss ausgehebelt, indem Ihr die Direkte Demokratie aus dem Grundsatzprogramm gestrichen habt.
Ihr habt uns Mitgliedern diese fundamentale Änderung nicht mitgeteilt. Eine Debatte dazu in den Kreisverbänden war nicht mehr möglich. Viele Delegierte haben davon erst aus der Presse erfahren, weil diese über eine Petition auf change.org berichtet hat, die sich gegen Euer Vorgehen richtete. Innerhalb weniger Tage haben über 50000 Menschen diese Petition gezeichnet. Auch haben sich vierzehn NGOs, hinter denen mehrere Millionen Menschen stehen an Euch gewandt und um die weitere Verankerung der Direkten Demokratie in unserem Grundsatzprogramm geworben.
Bis heute hast Du mit Deinen fünf Bundesvorstandskolleg*innen die Streichung der Direkten Demokratie aus unserem Grundsatzprogramm nicht begründet. In Deiner gestrigen politischen Rede sagst Du aber selbst "Veränderungen sind stark begründungspflichtig". Das passt nicht zusammen.
Warum also habt Ihr das getan? Traut sich der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demokratie nicht mehr zu?
Die Aufnahme eines rein beratenden Instrumentes, dem Bürger*innenrat unter dem Label „Demokratie" ist irreführend. Ihr wollt doch auch Euren zukünftigen Koalitionspartner nicht nur beraten, sondern auf Augenhöhe mit ihm entscheiden. Wie willst Du, liebe Annalena, das 1,5°-Ziel „in eine parlamentarische Mehrheit übersetzen" (Zitat aus Deiner Rede) ohne Druck durch Direkte Demokratie? Wie eine Koalition unsere Ziele ausbremst sehen wir zur Zeit im Danni. Wieviel Grün wird es im Bund mit einem zukünftigen Koalitionspartner Armin Laschet ohne Druck durch Direkte Demokratie noch geben? Laschet, der mit martialischem Polizeiaufgebot die Braunkohle durchboxt und Klimaaktivist*innen extra lange einsperren lässt! Was der Druck durch ein mögliches Volksveto bewirken kann, siehst Du in der Schweiz. Dort wurde ein traumhaftes Klimaschutzgesetz beschlossen.
Auf kommunaler Ebene wird auch bei uns davon schon lange Gebrauch gemacht. Stadtratsbeschlüsse werden durch Bürgerbegehren kassiert. Verwässerte Gesetze, wie sie Altmaier z.B. mit dem Lieferkettengesetz gerade macht, kämen nicht mehr durch. Volksentscheide kennen weder Koalitionsvereinbarungen noch Fraktionszwänge. Demokratie in Reinstform, populismussicher. Unsere Bundesarbeitsgemeinschaft „Demokratie" hat einen ebenfalls populismussicheren Kompromissvorschlag erarbeitet. Er bietet Euch Bundesvorständler*innen heute beim Parteitag die Chance, die von Euch falsch gestellte Schraube zu korrigieren, damit unser Werk gelingen kann.
Übrigens liebe Annalena, in Deinem Bundesland ist die geballte Kompetenz in Sachen Direkte Demokratie vorhanden. Nutze sie. Wir sind es den Aktivist*innen, die für unsere Ziele auf Bäume klettern und Schienen besetzen schuldig, ihnen dieses demokratische Instrument zu erstreiten. Ohne die Unterstützung durch Direkte Demokratie sind Parlamente heute nicht mehr in der Lage sich gegen die globalen Machtkomplexe zu behaupten.
Was ist das für eine verheerende Botschaft an die Welt, wenn Wir GRÜNE die elementaren Grundsätze unserer Identität aus unserem Grundsatzprogramm streichen anstatt für sie in Koalitionsverhandlungen mit aller Kraft zu streiten? Ich erwarte von Dir, liebe Annalena, und Deinen Bundesvorstandskolleg*innen Ricarda, Jamila, Michael, Marc und Robert, dass Ihr mit absolut klarer Kante unsere Grundsätze in Koalitionsverhandlungen einbringt und dafür kämpft. Nur so können wir langfristig unsere Identität sichern.
Übrigens gibt es in der Bevölkerung eine große Mehrheit für bundesweite Volksentscheide, selbst bei den Mitgliedern der CDU.
Liebe Grüße,
Francois Botens, KV Mainz-Bingen
Mainzer Straße 254
55218 Ingelheim
Hintergrund: Vor wenigen Wochen war bekannt geworden, dass der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen die bundesweiten Volksabstimmungen aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen haben.